Der Ring

And here the original German story from 2009.


Die Sonne scheint warm. Der Junge lächelt. Er schließt die Augen und streckt sich auf der Decke im Garten aus. Er wird ein wenig ausruhen. Der Mann zu Besuch zündet eine Pfeife an; alle, seine Eltern, seine Geschwister, der Besuch, reden fröhlich durcheinander. Vom Grill beginnt es gut zu riechen. Es ist Samstag Nachmittag, es ist Sommer.

Der Junge hört eine Stimme leise rufen, eine Frauenstimme. Sie kommt nicht von der Terrasse, sondern von weiter weg, aus Richtung des Dorfes. Ruft sie seinen Namen? Er lauscht, aber hinter der Unterhaltung der Erwachsenen und dem Lachen seiner Geschwister kann er nichts genaues verstehen. Die Stimme ruft wieder. Es hört sich traurig an.

Der Junge öffnet die Augen. Er ist sich sicher, dass die Stimme ihn ruft. Er geht zu seiner Mutter, um ihr Bescheid zu sagen. Sie nickt nur, aber scheint ihn nicht weiter zu beachten. Der Junge geht zum Gartentor und läuft hinaus auf die Straße. Er geht in Richtung des alten Dorfes.

Der Weg ist nicht weit, doch er kommt dem Jungen heute lang vor. Die Straßen sind menschenleer, nicht nur im Wohngebiet, sondern auch als er sich dem Ortskern nähert. Nichts bewegt sich, nicht einmal eine Brise. Die Stimme zieht den Jungen weiter. Er kann immer noch keine Worte verstehen, nur dieses traurige Rufen, fast wie eine Erinnerung.

War der Weg schon immer so weit gewesen? Ein feiner Nebel war heraufgezogen, der Junge hatte sein Kommen nicht bemerkt. Ihn fröstelte und er überlegte, ob er umdrehen und eine Jacke holen sollte. Er schaute sich um. Er war kurz vor dem Schloss. Die Stimme klang schon ganz  nah. Er erkannte es jetzt auch genauer, sie rief nicht, sie weinte, laute, klagende Schluchzer.

Der Junge stolperte. Es war kein Asphalt mehr auf der Straße, nur noch lehmige Erde, übersät mit losen Brocken und Spurrinnen. Es war immer noch leer, keine Wagen, die die Rinnen verursacht hätten, keine Tiere, keine Menschen.

Er lauschte nach der Stimme. Sie kam von der anderen Seite des Schlosses, das seltsam anders aussah, als er es kannte, ohne Museumsschild oder andere Tafeln. Auch die Häuser am Schlosshof sahen anders aus. Alle waren neuer, aber nicht renoviert. Echter irgendwie, aber doch unwirklich. Es war düster geworden im Nebel. Es brannten keine Lichter und er bemerkte, dass auch keine Straßenlaternen zu sehen waren. Die Scheiben der Häuser waren aus Butzenglas, so dass er nicht hineinsehen konnte, aber er spürte, dass die Häuser leer waren. Sie waren leer und fühlten sich nicht unbewohnt an. Machte das Sinn? Der Junge nickte.

Er kam um das Schloss herum. Seine Mutter hatte gesagt, was das Gebäude dahinter war, eine Scheune oder Kelter, er konnte sich nicht mehr erinnern – und die Tafel daran war auch verschwunden. Aus diesem Gebäude kam die Stimme. Es war offen. Er zögerte und ging hinein. Auf einer Stufe saß eine Frau. Sie hatte das Gesicht in den Händen und weinte, nur noch leise, immer noch mit dem gleichen klagenden Ton, der ihn hergezogen hatte. Der Junge setzte sich neben sie.

Bevor er seinen Arm um ihre Schultern legen konnte, sah sie auf. Sie war noch ein Mädchen, nicht sehr hübsch, aber zart, zerbrechlich, fast durchscheinend. “Warum weinst du?” wollte er sie fragen. Das Mädchen streckte ihre linke Hand aus und legte sie auf seine Wange.

Die Berührung war eiskalt und gleichzeitig wie ein elektrischer Schock. Wie in einem Film zogen Bilder an seiner Wahrnehmung vorbei: ein junger Mann in einer Art Uniform; das Mädchen, das ihn umklammerte; sie zog einen Ring aus einem rötlichen Metall von ihrem Finger; er hängte den Ring an einem Band um seinen Hals; er marschierte mit seiner Kompanie fort; das Mädchen blieb zurück.

“Ich werde ihn für dich finden”, flüsterte der Junge. Er konnte sie jetzt deutlich spüren, die Erinnerungen, die in den Häusern wohnten. Dort drüben hatte ein Schneider gelebt, täglich verkrümmt über seiner Nadelarbeit. Und dort ein Tischler, viel beschäftigt für die Bewohner des Schlosses und des Dorfes drumherum. Der Junge streckte seine neu gewonnenen Sinne aus nach dem jungen Mann mit dem Ring.

Eine starke Erinnerung kam vom Ratshausplatz her, vom Brunnen. Er rannte dorthin. Außer dem Mädchen hatte er immer noch niemanden gesehen, dennoch wirkte ihm alles viel lebendiger. Wenn er sich anstrengte, meinte er die Stimmen der Bauern und Händler zu hören, wie sie an einem Markttag riefen, feilschten und lachten. Er ging zum Brunnen. Hier hatten der junge Mann und das Mädchen gesessen und sich ihre Liebe geschworen, dessen war er sich sicher. Aber jetzt war er leer.

Der Junge lauschte wieder. Er hörte ein Klirren, wie Metall auf Metall, Schreie von Männern und Wiehern von Pferden. Plötzlich wusste er, wo er suchen musste.

Der Friedhof sah ganz anders aus, als er ihn kannte. Keine Grab-stelen mit Inschriften, nur einfache Holzkreuze und Steine schmückten die Gräber. An der Friedhofsmauer stand ein Findling. Die Erinnerung an den jungen Mann, an viele junge Männer, hing stark an ihm. Ein Denkmal. Der Junge konzentrierte sich. Die Erinnerung verdichtete sich, immer weiter, bis vor dem Stein ein Band lag – mit einem Ring daran.

So schnell er konnte rannte er, zu dem Haus hinter dem Schloss. Das Mädchen nahm den Ring. Sie umklammerte das Stück Metall und seufzte. Dann begann sie schwächer zu werden, dünner, durchsichtiger. Bevor sie ganz verschwunden war, sah der Junge sie noch ganz blass, eng umschlungen mit ihrem Liebsten. Die Erinnerung trägt ihn nach Hause zurück, in seinen Garten, wo die Sonne warm scheint. Der Junge öffnet die Augen. Der Grill duftet. Alle reden fröhlich durcheinander. Aus der Pfeife steigt Rauch in den Himmel, er bildet einen durchscheinenden, fast unsichtbaren Ring. Der Junge lächelt.

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